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Stillen - wie lange eigentlich?
Nicht nur das Schlafen, auch das Stillen ist offensichtlich
eine Geschichte voller Missverständnisse.
Bei der Frage, wie oft ein Kind in der Nacht gestillt werden
darf, begegneten wir den unterschiedlichsten Meinungen.
Während man um 1900 bis in die dreißiger Jahre hinein
noch die Meinung vertrat, dass man ein Baby von Geburt an nachts
schreien lassen muss, damit es beizeiten lernt, durchzuschlafen,
ist man heute toleranter - kleine Babies werden nach Bedarf
gestillt. Aber nach dem sechsten Monat erlegt man ihnen wieder
gewisse Einschränkungen auf und ist der Ansicht, dass sie
ab diesem Zeitpunkt neun, wenn nicht gar elf Stunden ohne
Mahlzeit auskommen können. Ein Kind das ab diesem Alter
nachts immer noch regelmäßig gestillt werden will,
wird also mit einer gewissen Skepsis betrachtet.
Auch die allgemeine Stillzeit unterliegt gesellschaftlichen
Einschränkungen. Die meisten Babies werden anfangs
gestillt, jedoch wird der größte Teil innerhalb der
ersten sechs Lebensmonate abgestillt. Mütter, die über
diesen Zeitraum hinaus stillen, gelten als ungewöhnlich
und werden mitsamt ihrer Kinder kritisch beäugt.
Und so lautet die Frage, der wir Mütter uns
regelmäßig stellen müssen, nicht nur "Wann
schläft das Kind endlich durch?", sondern auch
"Wann wird das Kind endlich abgestillt?"
Mit sechs Monaten sind fast alle Babies unserer Gesellschaft
Flaschenkinder, und oft werden Mütter, die länger
stillen, unter Druck gesetzt. "Wie, Du stillst noch?"
lautet die erstaunte, nicht selten auch entsetzte Frage.
"Wie kannst du ein so großes Kind noch stillen? Du
bindest es ja viel zu fest an dich und machst es abhängig
von dir!"
Eigentlich seltsam, aber wahr: die natürlichste und
unbestritten beste Ernährung für ein Baby wird nach
dem sechsten Monat, spätestens aber ab dem ersten
Lebensjahr plötzlich verteufelt und der Fütterung mit
Flaschenmilch untergeordnet. Was bisher als das Beste galt, soll
dem Kind nun angeblich Schaden zufügen.
Kinderärzte und Psychologen führen eine Vielzahl von
Gründen an, weshalb ein Stillen über den sechsten
Lebensmonat hinaus nicht nur sinnlos, sondern auch
schädlich für das Kind sein soll. Man
behauptet, dass die Muttermilch nichts mehr zu der gesunden
Ernährung des Kindes beitragen kann. Es wird zu bedenken
gegeben, dass Kinder, die über das erste Lebensjahr hinaus
gestillt werden, eine zu enge Bindung an die Mutter entwickeln
und nicht in der Lage sind, sich selbst zu trösten, weil
sie in Stresssituationen immer auf die Brust der Mutter
angewiesen sind.
In dem Buch "Unser Kind spricht nicht richtig"
fordert Dr. Marion Hermann-Röttgen, dass ein Kind im
eigenen Bett schlafen und spätestens bei den ersten
Zähnen abgestillt werden sollte, um sich vom
Säugling zum Kleinkind zu entwickeln. Sie betrachtet das
Aufgeben von Gewohnheiten, die dem Säuglingsalter
zuzuordnen sind, als eine wichtige Voraussetzung zum
Sprechenlernen.
Ein Artikel der Berliner Morgenpost vom 16. Dezember 2000
beklagte, dass unsere heutigen Kinder zu konsumverwöhnt
seien. Die Autorin dieses Artikels schilderte, dass die Kleinen
heutzutage bereits im Grundschulalter mit Geschenken wie
Handy und Fernseher überhäuft werden und erwähnte
als weiteren negativen Schritt zum verzogenen Gör das
Stillen über das erste Lebensjahr hinaus.
Andere geben zu bedenken, dass langzeitgestillte Kinder der
Gefahr ausgesetzt werden, Karies zu bekommen. Kinderärzte
warnen vor der Schadstoffbelastung der Muttermilch besonders
nach dem sechsten Monat und fordern, dass Mütter, die
über diese Zeit hinaus stillen, ihre Milch auf Schadstoffe
untersuchen lassen sollten. Und der Vorwurf, dass
alleinerziehende Mütter nur lange stillen, weil sie
sich über das Kind die Zärtlichkeiten holen wollen,
die sie sonst nicht bekommen, darf in der Sammlung von
Vorurteilen natürlich auch nicht fehlen.
Ist es wirklich so schädlich und widernatürlich, ein
Kind länger als sechs Monate zu stillen? Ist nach dem
sechsten Monat die Fütterung mit der Flasche vorzuziehen?
Die Empfehlung der WHO hingegen lautet, mindestens zwei Jahre
zu stillen, in Verbindung mit entsprechender Beikost. Die
Behauptung mancher Kinderärzte, die Muttermilch sei nach
dem sechsten Lebensmonat für das Kind wertlos, ist
nicht korrekt. Untersuchungen haben ergeben, dass die
Muttermilch weiterhin Immunglobuline enthält, so dass das
Kind mit jedem Schluck eine kleine Schutzimpfung gegen
Krankheitserreger erhält. Die Zusammensetzung der Milch im
zweiten Lebensjahr scheint der des Kolostrums ähnlich zu
sein. Sie weist einen sehr hohen Gehalt an Antikörpern
auf und ist so den Bedürfnissen des Kindes, das immer mehr
mit seiner Umwelt in Kontakt kommt, weiterhin perfekt angepasst.
Auch Vitamine sind weiterhin in der Muttermilch enthalten;
teilweise ist deren Konzentration um ein Vielfaches höher als
im Blut der Mutter, so dass das Kind einen großen Teil
seines Bedarfs weiterhin durch das Stillen decken kann.
Aus welchem Grund soll die Flaschenmilch das Original
übertreffen?
Auch die Schadstoffbelastung der Muttermilch ist kein Grund,
abzustillen. Denn die meisten Schadstoffe gehen in den ersten
zwei bis vier Monaten in die Muttermilch über, und nicht,
wie man oft hört, erst nach sechs Monaten. Des weiteren
ist die Schadstoffbelastung in den letzten Jahrzehnten
rückläufig, so dass die Vorteile der Muttermilch
überwiegen.
Bei Naturvölkern ist es selbstverständlich, dass die
Kinder etwa vier Jahre lang gestillt werden, und auch unsere
Vorfahren stillten ihre Kinder weit über die heute
gesellschaftlich akzeptierte Zeit hinaus. Was damals ganz
alltäglich und natürlich war, soll heute
plötzlich schlecht sein - eigentlich ist es doch sehr
traurig, dass wir heutzutage ein solch gestörtes
Verhältnis zu der natürlichsten Art, ein Kind zu
ernähren, haben.
Wird ein langzeitgestilltes Kind zu sehr verwöhnt und zu
abhängig von der Mutter? Man beklagt, dass ein so lange
gestilltes Kleinkind sich nur an der Brust der Mutter beruhigen
kann. Aber können sich all die anderen Kinder, die sich
mit dem Schnuller, einem Kuscheltier oder der Flasche
trösten, denn selbst beruhigen? Wie seltsam, dass dazu
keine Klagen auftauchen, oder liegt es etwa nur daran, dass
Kuscheltier, Schnuller und Flasche ein gewohnter Anblick sind
und so gesellschaftlich akzeptiert? Und inwieweit muss ein
Kind sich denn selbst trösten können? Müsste
man dann nicht auch verbieten, ein Kleinkind in den Arm zu
nehmen, weil man damit ebenso unterbindet, dass es sich selbst
beruhigt?
Wir haben mittlerweile mehrere langzeitgestillte Kinder
kennengelernt, die gerade durch sehr selbstbewusstes und
selbständiges Verhalten auffallen, unsere Tochter
eingeschlossen, so dass wir mittlerweile geneigt sind, diese
Befürchtung in das Reich der Phantasie zu verbannen. Es
ist unmöglich, einem Kind das Stillen aufzuzwingen. Also
holen sich die Kleinen aus eigenem Antrieb ihre Muttermilch,
und was soll daran schädlich sein, wenn der Nachwuchs auch
im zweiten Lebensjahr eine innige Beziehung zu der Mutter in
Verbindung mit einer einzigartigen Nahrungsergänzung
genießen will? Werden sie nicht gerade durch die
Geborgenheit, die sie an der Brust der Mutter erfahren, mit
Selbstbewusstsein ausgerüstet, so dass sie sich zu
selbständigen Persönlichkeiten entwickeln
können?
Steht ein zu langes Stillen der Entwicklung des Säuglings
zum Kleinkind im Weg? Muss man ein Kind abstillen, wenn es die
ersten Zähne bekommt, weil es sonst auf der
Entwicklungsstufe eines Säuglings stehenbleibt und
möglicherweise beim Erlernen der Sprache behindert wird?
Sollte man ein Baby auf der Stelle abstillen, wenn es mit drei
Monaten den ersten Zahn bekommt, damit das arme Kind sich
weiterentwickeln kann? Wie verhält es sich denn
beispielsweise mit Babies, die bereits mit Zähnen zur Welt
kommen? Dürfen die gar nicht gestillt werden?
Verwöhnen wir unsere Kinder, wenn wir sie lange stillen?
Geht das lange Stillen dem eigenen Handy und dem Fernseher
voraus? Wir fragten uns kopfschüttelnd, was das Stillen
denn bitte mit Konsum zu tun haben soll. Besteht das Problem
nicht eher darin, dass so mancher Nachwuchs schon im
Kleinkindalter mit Spielzeug überhäuft wird, weil die
Eltern keine Zeit (keine Lust?) haben, sich persönlich mit
den Kindern zu befassen? Oder hat die Autorin dieses Artikels etwa
beobachten können, dass sämtliche langzeitgestillte
Kinder bei Naturvölkern eigene Handys besitzen?
Ein weiteres Argument, das manchmal gegen das Langzeitstillen
angeführt wird, ist die mögliche Gefährdung der
Zähne. Diese Sorge ist jedoch eher bei Flaschenkindern
begründet, weil sich bei dem Trinken aus der Flasche die
Milch im Mund verteilen und so auch die Zähne angreifen
kann. Beim Trinken an der Brust liegt die Brustwarze so weit
hinten, dass beim Saugen die Milch im Rachen des Kindes
austritt und sofort geschluckt wird, ohne dass es zu einem
nennenswerten Kontakt mit den Zähnen kommt. Und falls es
doch anders sein sollte - glücklicherweise verfügen
wir über die wunderbare Erfindung der Zahnbürste.
Wenn ich meinem Kind nach der Milch- oder Saftflasche die
Zähne putzen kann, warum sollte ich das nach dem Stillen
nicht auch können?
Weitere Informationen
Auf der Webseite
kind.qualimedic.de
finden Sie einen interessanten Artikel über die
Vorteile, ein Kind länger als sechs Monate zu stillen.
Artikel von Fachleuten und Berichte von stillenden Müttern
hat Ulrike Schmidleithner auf ihrer Seite
www.uebersstillen.org
zusammengetragen. In einem Artikel setzt sich
Dr. Katherine Dettwyler mit der Frage nach dem
natürlichen Alter für das Abstillen
auseinander.
Erfahrungen anderer Eltern finden Sie auf
www.ichstille.de. Sehr
schön ist beispielsweise der
Bericht von Elke Vogt,
die ihre Tochter Anke zweieinhalb Jahre gestillt hat.
Weitere Erfahrungsberichte
bietet auch die Seite
www.babyzimmer.de
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